EINUNDVIERZIG
Beim Hinausgehen rechne ich schon halb damit, dass Roman mit seinem altbekannten spöttischen Blick auf mich wartet. Doch er ist nicht da. Und als ich zu den Lunchtischen komme, weiß ich auch, warum.
Er hat einen Auftritt. Er dirigiert alle um sich herum und bestimmt alles, was sie sagen und tun - wie ein Bandleader, ein Puppenspieler, ein mächtiger Zirkusdirektor. Und gerade als sich in meinem Hinterkopf eine Ahnung herauskristallisiert, gerade als ein Hauch von Begreifen Form anzunehmen beginnt, sehe ich - ihn. Damen.
Die Liebe jedes meiner Leben stolpert auf den Lunchtisch zu, so wackelig, so mitgenommen und abgemagert, dass nicht zu übersehen ist, wie rapide sein Verfall fortgeschritten ist. Uns geht die Zeit aus.
Als sich Stada auf einmal umdreht, das Gesicht verzieht und zischt »Du Freak!«, stelle ich verblüfft fest, dass die Beschimpfung nicht mir gilt.
Sondern Damen.
Und binnen Sekunden stimmt die ganze Schule mit ein. Sämtlicher Hohn, der einst für mich reserviert war, richtet sich nun gegen ihn.
Ich schaue zu Miles und Haven hinüber und sehe, wie sie in den Sprechchor mit einstimmen, ehe ich auf Damen zueile. Erschrocken stelle ich fest, wie feuchtkalt seine Haut ist, wie eingefallen seine einst so hohen Wangenknochen wirken und wie seine tiefen, dunklen Augen, in denen einmal so viel Verheißung und Wärme lagen, jetzt wässrig und entzündet sind und kaum den Blick halten können. Und obwohl seine Lippen schrecklich trocken und aufgerissen sind, fühle ich nach wie vor eine unwiderstehliche Sehnsucht danach, meinen Mund auf seinen zu pressen. Denn ganz egal, wie er aussieht, ganz egal, wie sehr er sich verändert hat, er ist immer noch Damen. Mein Damen. ob jung oder alt, gesund oder krank, es spielt keine Rolle. Er ist der Einzige, an dem mir je wirklich etwas gelegen hat - der Einzige, den ich je geliebt habe -, und nichts, was Roman oder sonst jemand tut, kann das jemals ändern.
»Hey«, flüstere ich mit brüchiger Stimme, während mir die Tränen in die Augen schießen. Ich blende die schrillen Spottrufe um uns herum aus und konzentriere mich ausschließlich auf ihn. Ich hasse mich selbst dafür, dass ich lange genug weggeschaut habe, um es so weit kommen zu lassen, denn ich weiß, er hätte nie erlaubt, dass so etwas mit mir geschieht.
Er wendet sich mir zu, wobei er Mühe hat, seinen Blick zu fokussieren, und gerade als ich glaube, einen Schimmer des Erkennens erhascht zu haben, ist er so schnell wieder verschwunden, dass ich es mir bestimmt bloß eingebildet habe.
»Lass uns von hier verschwinden«, sage ich, zupfe an seinem Ärmel und versuche, ihn mit mir zu ziehen. »Sollen wir schwänzen?« Ich lächele ihn an in der Hoffnung, ihn an unsere typische Freitagsgewohnheit zu erinnern. Wir sind gerade am Tor angelangt, als Roman auftaucht.
»Wozu mühst du dich ab?«, fragt er mit verschränkten Armen und schiefgelegtem Kopf, wobei immer wieder sein Ouroboros-Tattoo aufblinkt und wieder verschwindet.
Ich packe Damens Arm und kneife die Augen zusammen, entschlossen, an Roman vorbeizukommen, koste es, was es wolle.
»Mal im Ernst, Ever.« Er schüttelt den Kopf und blickt zwischen Damen und mir hin und her. »Wozu die Zeitverschwendung? Er ist alt, schwach, hinfällig und wird, wie ich leider sagen muss, allem Anschein nach nicht mehr lange auf dieser Erde verweilen. Du hast doch bestimmt nicht vor, deinen süßen jungen Nektar an diesen Dinosaurier zu verschwenden?«
Er sieht mich aus blitzenden Augen an und verzieht spöttisch den Mund, ehe er zum Lunchtisch schaut, wo der schrille Sprechchor von Hohnrufen die nächste Ebene erreicht.
Und da weiß ich es auf einmal.
Der Gedanke, der mich schon länger umkreist, immer wieder verschwommen auftaucht und um meine Aufmerksamkeit buhlt, wurde endlich gehört. Und obwohl ich nicht sicher bin, ob ich Recht habe, und mir nichts anderes übrig bleiben wird, als blamiert davonzuschleichen, falls ich mich irre, mustere ich die Menge, lasse meine Blicke von Miles zu Haven zu Stada zu Honor zu Craig und zu jedem einzelnen Schüler wandern, der gedankenlos mitmacht und das sagt und tut, was alle anderen sagen und tun, ohne auch nur einmal innezuhalten, ohne auch nur einmal nach dem Warum zu fragen.
Also hole ich tief Luft, schließe die Augen und konzentriere all meine Energie auf sie, ehe ich schreie:
»WACHT AUF!!!«
Dann stehe ich da und schäme mich zu sehr, um hinzusehen, nachdem nun all ihr Spott erneut von Damen auf mich übergegangen ist. Doch davon darf ich mich nicht hindern lassen, ich weiß, dass Roman irgendeine Form von Massenhypnose ausgeübt und sie in eine Art hirnlose Trance versenkt hat, in der alle nach seiner Pfeife tanzen.
»Ever, bitte. Rette dich, solange du noch kannst.« Roman lacht. »Nicht einmal ich kann dir mehr helfen, wenn du so weitermachst.«
Aber ich höre nicht auf ihn - ich kann nicht auf ihn hören. Ich muss einen Weg finden, um ihn zu stoppen - sie alle zu stoppen! Ich muss einen Weg finden, um sie alle aufzuwecken, es irgendwie schaffen, dass sie wieder zu sich kommen ...
Zu sich kommen!
Das ist es! Ich schnippe einfach mit den Fingern, und dann...
Ich hole tief Luft, schließe die Augen und brülle so laut ich kann:
»KOMMT ZU EUCH!«
Was lediglich dazu führt, dass meine Mitschüler komplett ausflippen, wobei ihr Hohngeschrei noch eine Stufe lauter wird und massenhaft Limodosen auf mich geworfen werden.
Roman sieht mich seufzend an und sagt: »Ever, ehrlich. Ich bestehe darauf. Du musst mit diesem Wahnsinn aufhören, sofort! Du machst dich doch komplett lächerlich, wenn du dir einbildest, dass das funktioniert! Was willst du denn als Nächstes machen - ihnen allen eine runterhauen?«
Ich stehe da, atme flach und abgehackt und weiß, dass ich mich nicht irre, ganz egal, was er sagt. Ich bin sicher, dass er sie mit einem Bann belegt und ihren Verstand durch irgendeine Trance in seine Gewalt gebracht hat.
Und dann fällt mir dieser alte Dokumentarfilm wieder ein, den ich mal im Fernsehen gesehen habe, in dem der Hypnotiseur den Patienten nicht dadurch zurückgeholt hat, dass er ihm einen Klaps versetzt oder mit den Fingern geschnippt hat, sondern indem er bei drei in die Hände geklatscht hat.
Ich hole erneut tief Luft und sehe zu, wie meine Mitschüler auf Tische und Bänke steigen, um besser mit ihren Essensresten auf mich zielen zu können. Und ich weiß, dass dies meine letzte Chance ist, und wenn das nicht funktioniert - tja, also dann weiß ich auch nicht mehr, was ich machen soll.
Also schließe ich die Augen und brülle:
»WACHT AUF!«
Dann zähle ich von drei auf eins herunter und klatsche zweimal in die Hände.
Und dann -
Nichts.
Die ganze Schule verstummt, während langsam alle zu sich kommen.
Sie reiben sich die Augen, blinzeln, gähnen und strecken sich, als erwachten sie aus einem langen, langen Schlaf. Verwirrt sehen sie sich um und fragen sich, warum sie mit genau den Leuten, die sie früher als Freaks bezeichnet haben, auf den Tischen stehen.
Craig reagiert als Erster. Als er merkt, dass er so nah neben Miles steht, dass sich ihre Schultern praktisch berühren, rast er ans andere Ende. Er beruhigt sich im Kreis seiner Sportsfreunde und erobert seine Männlichkeit durch einen Knuff auf den Arm zurück.
Als Haven mit total angeekelter Miene auf ihre Karottensticks schaut, muss ich einfach grinsen, weil ich weiß, dass die große, glückliche Familie wieder in ihrem normalen Alltagsleben angekommen ist, also sich bei Spitznamen rufen, Augen verdrehen und sich - wie gewohnt nach Cliquen abgegrenzt - gegenseitig angiften. Sie sind in eine Welt zurückgekehrt, wo nach wie vor Feindseligkeit und Abneigung herrschen.
Meine Schule ist wieder normal geworden.
Ich laufe in Richtung Tor, um Roman zur Rede zu stellen, doch er ist schon weg. Also umfasse ich Damen fester, führe ihn über den Parkplatz und bugsiere ihn in mein Auto, während Miles und Haven, die zwei besten Freunde, die mir so gefehlt haben und die ich niemals wiedersehen werde, uns folgen.
»Ihr wisst, dass ich euch wahnsinnig gern habe, oder?« Ich schaue zwischen ihnen hin und her und weiß, dass sie das bescheuert finden, aber ich musste es einfach sagen.
Sie sehen einander an und wechseln einen erschrockenen Blick, während sich beide fragen, was eigentlich mit dem Mädchen passiert ist, das sie einmal als Eiskönigin tituliert haben.
»Ähm, okay«, sagt Haven und schüttelt den Kopf.
Doch ich lächele nur und drücke sie beide an mich, umarme sie fest, während ich Miles ins Ohr flüstere: »Was auch immer du tust, hör nicht auf zu schauspielern und zu singen, es wird dich sehr ...« Ich halte inne und frage mich, ob ich ihm wirklich sagen soll, dass ich gerade strahlendes Rampenlicht und den Broadway gesehen habe, aber ich will ihm seinen Weg dorthin nicht nehmen, indem ich ständig alles vorhersehe, also sage ich bloß: »Es wird dich sehr glücklich machen.«
Und noch ehe er etwas erwidern kann, bin ich schon bei Haven, denn ich muss das alles schnell erledigen, damit ich Damen zu Ava bringen kann. Aber ich will sie unbedingt dazu anhalten, sich selbst mehr zu lieben, sich nicht mehr in anderen zu verlieren, und ihr klarmachen, dass Josh es wert ist, so lange wie möglich bei ihm zu bleiben. »Du bist so wertvoll«, sage ich ihr. »Du hast so viel zu geben - wenn du doch nur sehen könntest, wie hell dein Stern in Wirklichkeit leuchtet.«
»Ähm, würg!«, sagt sie und lacht, während sie sich aus meiner Umarmung windet. »Alles in Ordnung mit dir?« Sie blinzelt zwischen Damen und mir hin und her. »Und was ist mit ihm los? Warum hängt er so schlapp rum?«
Ich schüttele den Kopf und steige ein, da ich keine Zeit mehr zu verlieren habe. Und während ich rückwärts aus der Parklücke stoße, schaue ich aus dem Fenster und frage: »Hey, wisst ihr vielleicht, wo Roman wohnt?«